„Der Schmetterling“ – Warum Helfen nicht nur Segen, sondern auch Fluch sein kann
Geschichte
„Ein Mann entdeckte in seinem Garten einen Schmetterlingskokon. Fasziniert beobachtete er, wie sich ein kleines Loch öffnete und allmählich die Fühler des Insekts hervorkamen. Mehrere Stunden lang versuchte der Schmetterling sich heraus zu kämpfen. Doch irgendwann gab er auf.
Aus Mitgefühl entschied der Mann, das kleine Wesen nicht seinem Schicksal zu überlassen. Mit einer Schere vergrößerte er vorsichtig die Öffnung und der Schmetterling krabbelte mit Leichtigkeit aus dem Kokon. Doch seine Flügel waren klein und schrumpelig und sein Körper geschwollen. Er konnte nicht fliegen.“
Beim Lesen dieser Geschichte fiel mir die tiefe, bittere Erkenntnis einer Patientin ein: „Ich habe meine Tochter lebensunfähig erzogen. Ich habe ihr alles abnehmen wollen. Ich wollte, dass es ihr besser geht als mir. Ich habe schon als kleines Kind viel zu schwere Aufgaben übernehmen müssen, die mich einfach überforderten und in mir Hilflosigkeit und Überforderung ausgelöst haben. Ich wollte nicht, dass sie sich so fühlt wie ich damals.“
„Fluch“ des Helfens
Der Mann, sowie meine Patientin hatten mit ihrem Hilfsangebot die besten Absichten. In diesem Fall ist ihre Hilfe jedoch ein „Fluch“. Beide greifen ungefragt bzw. im großen Maße in den natürlichen Entwicklungsweg ihres Gegenübers ein und nehmen ihm die Chance, psychische und körperliche Muskeln zu entwickeln, um als erwachsenes Wesen eigenständig ihr Leben zu meistern. Sie halten ihr Gegenüber dadurch klein und abhängig. Sie vertrauen ihm nicht, dass es in der Lage ist, schwierige Situationen, Widerstände aushalten und lösen zu können. Vielleicht, weil sie aus eigenen Erfahrungen in Kindheit und Jugend viel Hilflosigkeit und Überforderung erlebten und entsprechend nicht genug Selbstvertrauen entwickeln konnten.
Motive
Wie bei allen Dingen im Leben macht auch beim Helfen die Dosis das Gift. Das Zuviel oder Zuwenig des Helfenden sagt mehr über ihn selbst aus als über denjenigen, dem geholfen wird. Es gibt viele Motive, die einen dazu bewegen können, ohne Auftrag und / oder ungeachtet der eigenen Grenzen zu helfen. Hier ein kleiner Auszug:
- Projektion der eigenen Hilflosigkeits-Erfahrungen auf den anderen, obwohl dieser sich gar nicht hilflos fühlt
- Wahrgenommen, anerkannt und wertgeschätzt zu werden bei zu geringem Selbstwertgefühl
- Bindungssicherung – „Nur wenn ich etwas tue, helfe, gehöre ich dazu, schaffe Sicherheit, werde geliebt.“
- Prokrastination „Verschieberitis“- Sich im Übermaß um andere kümmern, um aus Versagensangst, Perfektionismus oder anderen Beweggründen nicht die eigenen Dinge in Angriff nehmen zu müssen
Ausweg
Deshalb ist es wichtig, sich immer wieder selbst zu reflektieren. Welches Motiv habe ich? Verantwortung beginnt mit Eigenverantwortung, mit dem Anspruch, ein kompetenter Helfer, anstatt ein hilfloser Helfer zu sein. Dazu bedarf es Fertigkeiten des einfühlsamen und achtsamen Erkennens eigener Grenzen, des Nein – Sagen – Lernens aus Liebe zu sich selbst und Vertrauen und Liebe zum Anderen. Bis zu welchem Punkt kann ich helfen? Habe ich überhaupt einen Auftrag vom anderen? Dadurch gebe ich mir selbst Raum, Entlastung und Kontrolle in meinem eigenen Leben und das Gefühl, selbstbestimmt zu sein. Ich begegne dem anderen auf Augenhöhe und demonstriere ihm den Respekt und das Vertrauen in seine Fähigkeiten. Ich helfe ihm auf diese Weise, Herausforderungen anzunehmen und fliegen zu lernen.